Kleines Ding

Titou, Carmen Schubert

Kleines Ding, in deinem roten T-Shirt und den ausgebeulten Hosen, das da so sorglos auf dem großen Feld hinter Omas Laube herumrennt, ohne einen Gedanken an morgen zu verschwenden. Ich möchte, dass du es genießt. Dass du die Zeit so lange wie möglich nutzt, bevor du deiner warmen Geborgenheit entrissen wirst und dein kindlicher Leichtsinn einer nicht ganz so einfachen weiblichen Realität weicht. Ich möchte, dass du auf so viele Bäume wie möglich kletterst, bevor die Jungs in deinem Umfeld für dich wichtiger werden, als du es selbst für dich bist. Bevor du dich plötzlich in deinem Körper nicht mehr wohl fühlst und dich so lange aushungerst, bist du die oberen Treppen des Schulhauses nicht mehr erreichen kannst.

Ich wünsche dir, dass du noch oft mit deinen Freundinnen lachend auf der alten Schaukel sitzt, den Wind in deinem wilden Haar. Bevor du verinnerlichst, wie nützlich es sein kann, schlecht über sie zu sprechen. Es wird Jahre dauern, das wieder zu verlernen.

 

Spiel noch ein bisschen in deiner kleinen Welt, bevor du anfängst, dich so unsicher zu fühlen, dass du dich für ein bisschen Anerkennung demütigst und belügst. Ich möchte, dass du noch viele Steine vom Strand sammelst und bemalst, bevor du eine Frau wirst, wofür du dich schämen, aber auch schamlos, erhobenen Hauptes bedeckt-freizügig durch die Welt gehen sollst. Du wirst merken, wie schwierig es ist, sich selbst in Ehren und gleichzeitig den Mund zu halten, wenn dann von deinem Körper Besitz ergriffen wird. Aber keine Sorge kleines Ding. Wenn dir nicht gefällt, was da passiert weißt du wenigstens; in spätestens elf Minuten ist alles vorbei. 

 

Beim Kinderarzt dieses eine bunte Pflaster zu bekommen, hat so viel mehr Spaß gemacht als mit sechzehn dieses kleine bunte Päckchen, das ab jetzt dein Leben bestimmen wird. Du und deine scheinbar aus dem Nichts eingetretene Unlust sind eine Zumutung für deine künftigen Partner – ist dir das nicht bewusst? Aber keine Sorge, es gibt viele Frauen, die keine Lust haben, viele Frauen, die die Pille nehmen. Vielleicht tauschst du dich mit denen mal aus? Geteiltes Leid ist halbes Leid! Du warst schon mit vierzehn ein bisschen melancholisch, aber jetzt möchtest du dir das Leben nehmen. Aber hey. Wie du schon früh im Kika gelernt hast: für die Liebe lohnt es sich zu leiden! Und was gibt es für einen größeren Liebesbeweis, als den Liebsten nach ein paar Stößen ungefragt in dir kommen zu lassen, während das einzige Gefühl in dir Schmerz ist? 

 

Was ich dir so gerne sagen will, Kleines; lass dir mehr Zeit erwachsen zu werden. Und schrei, schrei wenn du hinfällst, schrei wenn du wütend bist, schrei solange du noch kannst.